Der Spurt der Schnecke

Es gab Zeiten, gar nicht lange her, da wäre dahinter ein Ausrufezeichen angebracht gewesen, nach all dem Agenda-2010-Deutsch, mit dem die da oben in Berlin ihnen hier unten an der Basis aufs Gemüt gedrückt haben, aber das ist nun nicht mehr nötig. Denn der Brief ist ja an Franz Müntefering gerichtet, der an diesem Tag nach Velbert ins „Parkrestaurant Flora“ kommt, ein Etablissement, das über einen Veranstaltungssaal von respektabler Größe verfügt, ein wenig kalt vielleicht, wegen seines funktionalen 70er-Jahre-Charmes, aber auch das macht nichts, der Franz wird ihn schon wärmen. Mitte April hat Müntefering zu den Wurzeln gefunden. Eine Rede hat genügt, zwei, drei gezielte Reizworte; Begriffe, mit denen sich die Identität in den eigenen Reihen wieder festigen lässt, Begriffe, mit denen der Gegner Konturen gewinnt. „Wir erkennen die Rückbesinnung auf sozialdemokratische Werte, die fast vergessen schienen“, schreibt Schaubruch. Voll Dankbarkeit schreibt er das, voll Erleichterung. Doch, bei Lichte besehen, ist es ein verzweifeltes Lob; es zeigt, wie tief der Riss war, der durch die sozialdemokratische Seele gegangen ist. Auch hier, in Velbert.

Ja, sagt Otto Schaubruch, seit 36 Jahren in der Partei, ja, natürlich sei früher alles einfacher gewesen, an Rhein, an Ruhr und auch in Velbert, dem grünen Tor zum Bergischen Land, Stammland der Genossen auch das. Zwei Worte hätten gereicht, mehr Wahlkampf war lange nicht nötig, nicht in den 70ern, nicht in den 80ern: „Willy wählen!“ Oder, später: „Stoppt Strauß!“ Irgendwie lag in jenen Tagen eine Grundstimmigkeit über allem, eine hilfreiche Klarheit. Es gab ein Oben und ein Unten, ein Links und ein Rechts. Früher. Schlecht war das nicht. Und warum sollte es so falsch sein, wenn es wieder so werden würde. „Die traditionelle sozialdemokratische Handschrift mit ihrem erfolgreichen Einsatz für den „kleinen Mann“ muss wieder deutlich spürbar gemacht werden“, hat der Ortsvereinsvorsitzende an seinen Parteichef geschrieben. Schaubruch schaut nun ein wenig nostalgisch auf die Mitte der kreisrunden Veranstaltungstische im „Flora“, auf denen die wenigen noch übrig gelassenen Wurstbrötchen längst zu schwitzen begonnen haben – die Leute, sagt er, „haben uns das Informationsmaterial nur so aus den Händen gerissen, damals“.

So ist es nicht mehr. So wird es nicht mehr werden in den verbleibenden neun Tagen bis zum Wahlsonntag in Nordrhein-Westfalen, wo sich für die Genossen das Ende einer Ära nach 39 Jahren ununterbrochener Regentschaft düster drohend am Himmel abzeichnet, so schwarz, wie der Himmel über der Ruhr selbst in jenen Zeiten nie war, in denen die Welt für die SPD noch in Ordnung war. Die Demoskopen haben „Wechselstimmung“ festgestellt, erstmals. Sechs Prozentpunkte liegt die SPD noch hinter der CDU, hinter Rüttgers, den sie für ein „Weichei“ halten, was die Sache nicht besser macht. Andere ermitteln sogar elf Prozent. Das ist viel. Elf Prozent hinter einem Weichei, das ist verdammt viel. Die Zeit wird knapp. „Wenn NRW fällt, fällt auch Berlin“, raunt Schaubruch nun. Man hört diesen Satz oft, in diesen Tagen, in NRW. Öfter als in Berlin. Und ob er nun stimmt oder nicht, fast ist er so etwas wie das Mantra der Genossen, den ausgepumpten Körper mit letzter Kraft noch einmal über die Ziellinie zu wuchten. Dieses eine Mal noch, weil… ja, warum eigentlich? Vielleicht weil alles andere so unvorstellbar ist.

Oben, auf der Bühne im „Flora“ war „Münte“ mal wieder wunderbar. Münte mit seinen einfachen Sätzen. Münte mit seinen Wahrheiten. Münte mit seinem lakonischen Pathos. Münte. Seelenmasseur. Vom „Oppa“ hat er geredet, der in der Papierfabrik beschäftigt war. Vom „Pappa“ – der auch. Und dass heute die Söhne ihren Vätern eben nicht mehr in die Fabrik folgen. Da haben sie dann doch feuchte Augen gekriegt, an ihren kreisrunden Tischen, weil… ja, warum eigentlich? Vielleicht weil da einer gerade seine sozialdemokratischen Wurzeln definiert hat, und das sozialdemokratische Dilemma gleich mit dazu.

Die Wurzeln. Zurück zu ihnen. Langt das? Es muss. Es gibt keinen anderen Weg mehr, als Saft zu ziehen aus den eigenen Wurzeln. Auf der Bühne im „Flora“ strafft sich Müntefering zum Durchhalteschub. In Schleswig-Holstein, dem Desaster, das die Genossen im Februar so kalt erwischt hat, hätten sich elf Prozent der Wähler erst in den letzten 24 Stunden entschieden. Wahrheit. Und Hoffnung. Warum sollte das in NRW anders sein? Der SPD-Chef wird nun eindringlich, fast beschwörend, mahnt die Basis, sich auf das zu konzentrieren, was allein noch den Umschwung bringen kann – auf sich selbst. „Lasst die FDP-Wähler an den Ständen vorbeigehen, versucht nicht sie umzudrehen, das dauert zu lange“.

Die Zeit. Sie rast. Es bleibt nur noch, die eigenen Genossen einzufangen, selbst die ganz treuen. Die, die niemals CDU wählen würden. Die, die SPD wählen – oder zu Hause bleiben. Willi Wiebusch ist skeptisch. 37 seiner 70 Lebensjahre hat er in der SPD verbracht. Er ist Ortsverbandsvorsitzender der VdK Velbert, stellvertretender Vorsitzender der örtlichen Arbeiterwohlfahrt. Genosse sein heißt, was zu tun. Es gibt noch so viel zu tun, auch in seinem Alter, für die kleinen Leute, die, „die sonst auf der Strecke bleiben“. Wiebusch sagt: „Viele fürchten, es ist zu spät“. Und er? Er fürchtet das auch. „Die Kapitalismuskritik hätte ein halbes Jahr früher kommen müssen“. Damit kein Missverständnis entsteht, nicht wegen ihm, Wiebusch. Er ist da mit seiner Desillusion im Reinen. „Machen wir uns nichts vor“, sagt Wiebusch, „wir sind sowieso Leibeigene des Kapitalismus – wenn die nicht wollen, gibt es keine Arbeitsplätze“.

Ein halbes Jahr früher. Das ist doch eine Ewigkeit. Hartz IV war da noch nicht in Kraft, die vermaledeite fünfte Million noch nicht in Sicht. Vor einem halben Jahr, da dachten sie noch, die Heide, die macht das in Kiel, und der Wind aus dem Norden, es wäre Rückenwind.

Rückenwind. Auch so ein Wort. Volker Münchow benutzt es. Münchow, froh, nach „dem Schock von Kiel“ die Zeit wenigstens in eine Vor- und eine Nach-Heuschrecken-Zeit einteilen zu können. Wochen des Zweifels, sagt er, der stellvertretende Vorsitzende des Velberter SPD-Stadtverbands, seien Wochen der Zuversicht gewichen. Er wirkt nicht zuversichtlich, wenn er das sagt. Die Körpersprache. Er wird demnächst 45. Ein Alter, in dem man weiß, dass die SPD auch als „Partei der sozialen Gerechtigkeit“ die „Sozialsysteme nicht vor den Poller laufen lassen kann.“ Er hat ein Bild von Willy Brandt an der Wand, eine Kohlezeichnung. Er trägt Anzug. Er ist mit dem Verstand bei Schröder und mit dem Herz, ein bisschen, noch bei Lafontaine, auch wenn der seinerzeit „ganz viele Menschen im Stich gelassen hat“. Kompliziert ist das. Zu kompliziert für Wahlkampf, wo früher schon zwei Worte gereicht haben. Münchow kann den „totalen Strukturwandel“ beschreiben, den NRW hinter sich hat, und Velbert auch. Es soll stolz klingen, denn der Strukturwandel hat was mit der SPD zu tun, aber so richtig klappt das nicht. Denn natürlich ist mit dem ganzen High-Tech- Kram, der über das Land kam, auch ein Gutteil jenes Malocherimages verloren gegangen, dem sie hier, tief im Westen, wo die Sonne so schön verstaubte, noch nachhängen. Weil es auch ihr Image war.

Münchow holt nun einen Zettel. Er hat ein Thema, mit dem sich vielleicht was anfangen lässt, in den letzten Tagen: „Rettet die Sparkassen! Die CDU will ihnen an den Kragen!“ Da ist er wieder, der ewige Topos vom kleinen Mann mit kleinem Geld in feindlicher Welt. Die SPD, sie schützt. Sie passt schon auf. Der Genosse wird für einen Moment leidenschaftlich. Die Privatisierungspläne der CDU gehen ihm gegen den Strich. „Eine Schließung von Zweigstellen müssen wir mit aller Macht verhindern.“ Münchow sagt tatsächlich „mit aller Macht.“

Dass die Balkendiagramme am Wahlsonntag im 30-Prozent-Bereich hängen bleiben könnten – so ganz ist es immer noch nicht in den Köpfen der Genossen. 46,9 Prozent hat man bei den letzten Landtagswahlen in Velbert erhalten. 1995 war man sogar über der 50-Prozent-Marke. Seit den 60er Jahren, sagt Wolfgang Werner, „ist das Direktmandat für den Landtag immer an die SPD gegangen“. Ganze Generationen kennen nichts anderes als SPD-Regentschaft. Ein bisschen ist es wie in Bayern mit der CSU. Es ist nicht nur Politik. Es ist auch politische Kultur. Werner sitzt seit fünf Jahren im Landtag, seit 30 Jahren im Stadtrat von Velbert. Er ist Mitglied in 40 Vereinen. Oder in 50. Er weiß das nicht so genau. An Samstagen hat er mal sechs Termine. Oder acht. Er ist Vorsitzender der Bürgerinitiative Pro Niederbergbahn, Fahrer beim Bürgerbus Langenberg und in der Gewerkschaft ist er auch. Er macht das gerne. Anders, sagt er, gehe es nicht. Auch wenn so vieles anders geworden ist und demnächst vielleicht noch viel mehr.